Unternehmen sehen sich immer öfter dem Ruf „Wir müssen agiler werden!“ ausgesetzt. Verbunden damit sowohl der externe Druck als auch der interne Wunsch, schneller, flexibler und effizienter (ab)liefern zu können. Damit einher gehen im besten oder schlimmsten Fall konkrete Forderungen nach DER agilen Methode: SAFe, LeSS, Scrum, … begleitet von Beratern, die das Blaue vom Himmel versprechen.
Leider können Führungskräfte oft weder abschätzen, ob DIE eine Methode wirklich die bestmögliche für das Vorhaben ist, noch, ob die Versprechen der Berater realistisch sind. Was tun? Einfach probieren? Viel Mühe, Geld und Zeit investieren, um womöglich doch Schiffbruch zu erleiden? Die eigene Karriere und Vision aufs Spiel setzen?
Nur eines scheint klar: Alles beim Alten belassen, funktioniert nicht! Sprechen Experten über Methoden und Frameworks, fehlt oft die Erkenntnis, welche Effekte sie mit einem blinden Einsatz erzeugen. Es mangelt am Verständnis der zugrundeliegenden „Naturgesetze“, die das Wirken von Agile und Flow definieren.
1. Littles Gesetz
Littles Gesetz erklärt, warum es so wichtig ist, den Work in Process (WIP) auf ein möglichst niedriges Niveau zu reduzieren, ohne den Fluss zu unterbrechen. Die Verringerung des WIP führt in der Regel zur Reduktion von Fehlern, von negativem Multitasking und von Unterbrechungen – der Durchsatz steigt. Aber: Der WIP darf keinesfalls ZU niedrig angesetzt sein. Es braucht möglichst gleichmäßigen Fluss, um die Einschränkung (siehe Gesetz 2) nicht leerlaufen zu lassen.
2. Goldratts Gesetz
Jedes komplexe offene System hat genau ein Element, das den Durchsatz einschränkt! Wenn wir also akzeptieren, dass es nur einen einzigen lähmenden Engpass gibt, müssen wir alle Managementaktivitäten genau darauf konzentrieren. Optimierung findet nur dort statt, Prioritätsentscheidungen fallen auf dessen Grundlage. Eine Überlastung oder ein Aushungern der Einschränkung ist unbedingt zu vermeiden, wenn wir das Beste (den höchstmöglichen Gesamtdurchsatz) aus ihr schöpfen wollen.
3. Ashbys Gesetz
Komplexität schlägt Komplexität! Wer an der Spitze stehen will, muss eine größere Vielfalt an Verhaltensweisen nutzen können, also komplexer sein als das System, das man kontrollieren will. Setzen wir mit einzelnen Methoden wie beispielsweise Scrum an, fehlt uns genau diese Komplexität. Was auf den ersten Blick verrückt scheint, ist tatsächlich so: Komplexität macht Agile einfacher.
4. Conweys Gesetz
Nicht wissenschaftlich bewiesen, aber nachvollziehbar und praktisch erlebbar, besagt das Gesetz, dass Organisationen Systeme entwerfen, die ihre eigene Kommunikationsstruktur widerspiegeln. Wenn die Kommunikation nur von oben nach unten läuft – wie kann diese Organisation eine verteilte, selbstorganisierte Systemarchitektur entwerfen? Undenkbar. Die Folgerung: Will eine Organisation in der modernen Welt selbstorganisierter, lose gekoppelter Systeme spielen, muss sie sich zunächst selbst so organisieren und kommunizieren.
5. Shannon-Hartley-Gesetz
Was haben technische Erkenntnisse in der Nachrichtentechnik mit Agile zu tun? Es geht um Kommunikation! In der einfachen Form sagt Shannon „um ein gültiges Signal zu sehen, muss die Frequenz der Messung mindestens doppelt so hoch (besser noch höher) sein.“ Steuern wir ein System, in dem wöchentlich relevante Ereignisse auftreten, müssen wir theoretisch mindestens zweimal pro Woche (besser täglich) messen. Die relevanten Ereignisse stehen allen Verantwortlichen zur Verfügung – nicht als führungsspezifischer Kontrollmechanismus, sondern als einfache Notwendigkeit, um das System zu stabilisieren.
6. Hakens/Schiepeks Konzept der Selbstorganisation
Das deutsche Physiker-Psychologen-Duo hat umfassend über Selbstorganisation geforscht. In gleichnamigem Buch Synergetik beschreiben sie Selbstorganisation als Wirkmechanismus, der bei offenen Systemen, die aus autonomen Teilsystemen (Abteilungen/Teams, letztlich Menschen) bestehen, eine sprunghafte Änderung der Ordnungszustände ermöglicht. Also genau das, was wir mit Agile/Flow anstreben: den Sprung von einem Zustand niedriger Leistung in den höherer Leistung. Selbstorganisierte Veränderungen laufen aber nicht nur schneller, sondern auch sicherer ab. Weil niemand gegen das System anläuft, wird der Change nachhaltig.
Checkliste “State of the Art Agile”
Es ist grundlegend, die agilen „Naturgesetze“ zu kennen, um einordnen zu können, wann eine Methode überhaupt anwendbar ist oder ob sie das gewünschte Ergebnis liefern kann. Beantworten Führungskräfte vier Fragen mit einem klaren JA, steht einem agilen Makeover nichts im Weg und die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass der Ansatz zum Erfolg führt. Und das nicht nur mit viel Aufwand und teuren Beratern, sondern selbstorganisiert:
- Sorgt die vorgeschlagene Methode dafür, dass Sie den Engpass der Organisation erkennen – Goldratts Gesetz?
- Stellt die vorgeschlagene Methode sicher, dass jeder und jede unter 100 Prozent Auslastung (inklusive der Backlogs) ist – Littles Gesetz?
- Um beispielsweise Termine einzuhalten: Kann die Methode nicht nur agile Teams, sondern auch agile Projekte – Ashbys Law?
- Ist die Steuerung schnell genug – Shannons Theorem? Geht es darum, auf Monatsgenauigkeit zu liefern, muss das Signal ein- bis zweimal wöchentlich erzeugt werden. Möchte ich wochengenau liefern, dann täglich für alle!
Agieren wir unsicher und desorientiert, steuert das System uns und nicht umgekehrt. Der gefürchtete Schiffbruch ist dann die logische Folge. Ein vermeidbares Szenario. Für jeden persönlich und die Organisation als Ganzes. Deshalb: Augen auf – bei der Methoden- UND Beraterwahl!
Autor
Wolfram Müller, Gründer von BlueDolphin, ist Experte für agiles Multiprojekt- und Engpassmanagement sowie selbstorganisierte Veränderungen. Start-ups, Mittelständler und Konzerne haben bisher von seinen außergewöhnlichen Methoden profitiert: deutlich mehr Projekte mit gleichen Ressourcen sowie eine Verkürzung der Projektlaufzeiten innerhalb weniger Wochen
1 H. Haken/G. Schiepek „Synergetik in der Psychologie: Selbstorganisation verstehen und gestalten“, 2010
Aussagen des Autors und des Interviewpartners geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion und des Verlags wieder