Sich und das System täglich neu herausfordern. Für Unternehmer, Führungskräfte und Gründer ist Selbstorganisation nichts Neues. Aber es bietet auch für Mitarbeitende und Teams enorme Vorteile – unter einer Voraussetzung: alle sind dazu bereit, Verantwortung zu übernehmen.
Die PROs einer sich selbst organisierenden, agilen Kultur liegen auf der Hand: Überflüssige Hierarchien werden abgebaut und Mitarbeitende befähigt, schneller und leichter eigene Entscheidungen zu treffen. Alle Beteiligten haben mehr Möglichkeiten, ihre individuellen Fähigkeiten zu entwickeln. Außerdem stärken fließende Strukturen die Zusammenarbeit mit Kunden, weil durch mehr Fragen, die von allen gestellt werden dürfen und sollen, gemeinsam bessere Lösungen erarbeitet werden.
Auf der anderen Seite gibt es Herausforderungen, denen sich selbstorganisierte Teams stellen müssen. Die Veränderung von Gewohnheiten und Denkweisen steht an der Tagesordnung – auch, wenn das nicht jedem Menschen immer leichtfällt. Nur allzu wohl fühlen wir uns in vertrauten Rollen und einem bekannten Umfeld. Ja, der Weg zu dem, was man aktuell so leichthin „New Work“ nennt, ist steinig und verlangt jedem Einzelnen wie auch Unternehmen sehr viel ab.
Selbsterkenntnis und tägliche Herausforderung
In meiner Arbeit bin ich immer auf der Suche nach der Resonanz zwischen den Menschen und dem Fluss in ihren Interaktionen. Jeder Transformationsprozess wurzelt für mich in der Selbsterkenntnis. Also beginnt jedes (Unternehmens-)Leben nach den Prinzipien von Teal bei einem selbst: Wer will ich sein und was will ich tun? Dann richten wir den Blick nach außen auf das Team und die Kunden: Was macht Sinn und wie stellen wir sicher, dass wir gemeinsam sinnvolle Arbeit leisten?
Dieser Entdeckungsprozess ist der Wandel, den wir kontinuierlich durchlaufen. Die tägliche Herausforderung hilft uns dabei, uns auf das zu konzentrieren, was wir gemeinsam für wichtig halten. Es ermutigt uns, unser individuelles Ego beiseite zu lassen und uns mehr mit dem WIR als Team zu identifizieren.
Weniger Kontrolle und das endliche Denken ablegen
Ich stelle immer wieder fest, dass sich selbst bei Personen und Unternehmen, die sehr viel Erfahrung in und mit Selbstorganisation haben, Überbleibsel traditioneller Denkweisen einschleichen. Wir Menschen mögen endliche Konzepte und Grenzen: Wann ist dieser Tag zu Ende? Wann schließen wir dieses Projekt ab? Ich glaube, diese Punkte geben uns ein Gefühl der Kontrolle und Vollendung.
Dennoch entwickeln sich Projekte zu regelmäßigen Abläufen. Das Leben existiert schon seit Jahrtausenden und wird hoffentlich noch lange nach unserem Tod weitergehen. Ich glaube, Selbstorganisation ermöglicht es uns, die Welt um uns herum auf eine ganzheitlichere Weise zu betrachten. Im Gegenzug sollten wir ein wenig von unserem endlichen Denken abgeben. Wir sollten ein wenig von der Kontrolle loslassen und einen auf den Menschen ausgerichteten Arbeitsansatz wählen.
Komplexität und Ungewissheit aushalten
Nach fast fünf Jahren Selbstorganisation spüre auch ich noch diese Leidenschaft, Begeisterung und Nervosität. Ja, ich habe immer noch Schmetterlinge im Bauch vor Aufregung, und manchmal bin ich schier überwältigt von der Komplexität und Ungewissheit meines Umfelds. Die Herausforderung besteht darin, als Einzelner und als Team ständig daran zu arbeiten, sich auszurichten und Netzwerke des Vertrauens zu schaffen.
Genau darauf müssen wir uns als selbstorganisiertes Team in einer Zone mit zu vielen Variablen und der Unsicherheit, die sich aus neuen Arbeitsweisen für Einzelpersonen ergibt, verlassen können. Dieses Vertrauen entsteht durch den Wert, den wir durch die Arbeit bei unseren Kunden leisten, und durch bewährte Fähigkeiten. Aber es passiert auch durch Haltungen und Verhaltensweisen wie Mitgefühl, dienende Führung und Transparenz.
Werkzeuge zur Bewältigung von Unsicherheit
In einem selbstorganisierten System gibt es keine formell ernannten Führungskräfte. Stattdessen ist jeder eingeladen, Verantwortung dafür und im Unternehmen zu übernehmen. Auf der Grundlage von Vertrauen und Kompetenz kann dies zu einer Vielzahl von Optionen führen, es bilden sich zugleich aber ganz neue Herausforderungen. Wichtige Fragestellungen in diesem Zusammenhang lauten: Arbeiten wir als zweckorientiertes Unternehmen beispielsweise (mehr) an Projekten, die wir ‚Purpose‘ nennen, oder konzentrieren wir uns auf Aufgaben, die mehr Umsatz erzielen?
Welche Prioritäten setzen wir zu einem bestimmten Zeitpunkt in der selbstorganisierten Umgebung: Arbeitsverpflichtungen oder unsere persönlichen Bedürfnisse wie Entwicklung und Lernen, Wohlbefinden und mehr? Arbeiten wir an der Verbesserung unseres Systems und unserer Zusammenarbeit oder konzentrieren wir uns auf unsere externen Kunden?
Diese scheinbar widersprüchlichen Bedürfnisse und die damit entstehende Unsicherheit werden auch „systemic double binds“ – systemische Doppelbindungen (vgl. Fred Kofman „Is your job driving you nuts“) genannt. Um Prioritäten abzustimmen und Verantwortung zu übernehmen, müssen angesichts der systemischen Doppelbindungen Mitarbeitende wirklich eng zusammenarbeiten und sich gegenseitig unterstützen. Unternehmen müssen dazu einen sicheren Raum schaffen, in dem auf der einen Seite Bildung, Wissensaustausch und Coaching und auf der anderen Verantwortungsbewusstsein und Führungsqualitäten gefördert und manifestiert werden.
Autor:
Dr. Anna Nestorova, LIVEsciences Catalyst und LIVEventures Associate Partner, ist Molekularbiologin und Doktorin der Philosophie. Um komplexe Probleme zu lösen, berücksichtigt sie logisches Denken und zwischenmenschliche Bedürfnisse. Die Verbindung zwischen Innovation und Selbstorganisation im agilen Umfeld liegt ihr am Herzen.
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